Die Anfänge der modernen Genossenschaftsbewegung liegen in England und sind in direktem Zusammenhang mit der dort früh einsetzenden Industrialisierung Anfang des 19.Jahrhunderts und ihren Auswirkungen auf die Lebensumstände der Arbeiterschaft zu sehen. Die Ideen breiteten sich später in ganz Europa aus. Die Besonderheit dieser Rechtsform im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsformen besteht darin, dass sich nicht kapitalkräftige Personen an einem Unternehmen beteiligen um Gewinne zu erzielen, sondern dass sich Nichtbesitzende, wirtschaftlich Schwache, zusammenschließen, um gemeinsame Ideen zu verwirklichen.
Waren diese Zusammenschlüsse zunächst noch reine Konsum-genossenschaften, kümmerten sie sich auch bald um die immer drängender werdende Wohnungsnot in den Städten. Auch in Frankfurt wuchs um die Jahrhundertwende die Wohnungsnot rapide an.
Bedingt durch die wirtschaftliche Expansion kamen immer mehr Menschen nach Frankfurt um hier Arbeit zu finden. Gleichzeitig stieg der Bedarf an Wohnungen. Diese Situation nutzten die privaten Bauherren teilweise rücksichtslos aus. Viele Arbeiterfamilien mussten sich mit viel zu kleinen Wohnungen ohne Bad und Toilette, die zudem schlecht belüftet und ohne- Sonneneinstrahlung waren, zufrieden geben. Dieser Entwicklung entgegenzuwirken war das Ziel der drei, in kurzem Abstand zueinander, gegründeten Frankfurter Wohnungsbaugenossenschaften. Der Volks-Bau- und Sparverein war der letzte dieser um die Jahrhundertwende entstandenen genossenschaftlichen Kooperationen.
Am 20.November 1900 wurde das Statut beschlossen; die ersten Mitglieder wurden am 9. Januar 1901 in das Genossenschaftsregister eingetragen. Die Gründer sind in ihrer überwiegenden Mehrzahl der Frankfurter Arbeiterbewegung zuzuordnen, unter ihnen der spätere Riederwälder und Stadtverordnete Otto Zielowski.
Welche Ideen hinter der Errichtung genossenschaftlichen Wohnraums standen, lässt sich sehr gut aus dem ersten Geschäftsbericht des Jahres 1901 herauslesen:
„Nach reiflicher Erwägung dieser Fragen kamen beide Kooperationen dahin überein, dass eine Baugenossenschaft, welche die Ziele der Zeit richtig erfasst, nicht ausschließlich für billige Wohnungen für ihre Mitglieder zu sorgen hat, sondern dass es ihr vornehmster Zweck sein muss, gesunde, freundliche und bequeme Wohnungen zu schaffen, ein Heim, in welchem ein glückliches Familienleben gedeihen kann, in welchem sich der Mann nach des Tages Mühe und Last wohl fühlt und nach dem er sich sehnt, eine Stätte, an welcher die Frau mit Lust und Liebe ihr Tagwerk vollbringt und die Kinder zu gesitteten, tüchtigen Mitgliedern zu erziehen in der Lage ist, was ihr infolge der heutigen traurigen Wohnungsverhältnisse bei dem besten Willen oft nicht gelingt. …, wer es liebt, an dünnen Wänden das Leben und Treiben seines Nachbarn zu belauschen und selbst belauscht zu werden, wem ein schmutziger Hof genügend Luft und Licht für seine Wohnung gibt, wer diesen Hof und die Straße für einen geeigneten Spielplatz für seine Kinder hält und wem das Gedeih der Familie gleichgültig ist, wer in der Wohnung nichts anderes als eine Schlafstätte sieht und nach des Tages Mühe sich lieber im Wirtshaus als in seinem eigenem Heim erholt und wer um jeden Preis billig wohnen will, für den werden unsere Wohnungen infolge ihrer guten Ausstattung zu teuer sein.“
Die ersten 48 Wohnungen konnte der Volksbau bereits 1902 in der Rohrbachstraße vergeben. Man musste unter 100 Bewerbern auswählen. Der größten Aufgabe stellte sich der Volksbau im Jahre 1909. Er erwarb von der Stadt ein Gelände am Riederwald, um dort das damals mutigste Wohnungsbauprogramm zu beginnen: die Riederwald-Siedlung.
Als Baugelände stand ein 74.000 qm großes Areal zur Verfügung. Davon sollten nur 10.000 qm bebaut werden. Man plante keine schablonenhafte Miethausbebauung, sondern sah eine weitläufige niedrige Bauweise vor. Insgesamt sollten 40 Einfamilienhäuser, 198 Mehrfamilienhäuser mit 625 Wohnungen, 7 Läden und ein Volkshaus errichtet werden. 64.000 qm blieben für Straßen, Spielplätze und Gartenanlagen.
Die Gartensiedlung Riederwald und die dabei erzielten wohnungsreformerischen Erfolge waren wegweisend bei der Planung und Durchführung späterer Bauvorhaben. Geschlossen wirkende Wohnungsgruppen und die Zuordnung von Spielplätzen und Grünanlagen versprachen intakte Wohnverhältnisse. Die Mieten bewegten sich zwischen 31 und 47 Mark für Zweizimmerwohnungen und Einfamilienhäuser.
Die einzelnen Wohngruppen sind jeweils unterschiedlich gestaltet. Entlang der Straßen stehen die einzelnen Wohnhäuser mit Vorgärten. Die Fläche hinter den Häusern bietet Platz für Bleichwiesen und Gärten.
Die Kinder der Siedlung wussten diese Grünflächen eifrig zum Spielen zu nutzen. Auch architektonisch entstand hier eine „Spielwiese“. Wenn man auf die Form der Dächer achtet, fällt auf, dass hier alle bekannten Steildachformen zu finden sind. Die Dächer der Mietshäuser bestehen z. B. aus Sattel- und Walmdachformen mit Dachgauben, Satteldachbauten und Mansarddachformen. Auch einige wenige geschwungene Dachformen sind vorhanden. Diese Gestaltung brachte der Siedlung auch den Namen „Tripolis“ ein. Auch die Fassaden sind formschön gestaltet, indem oftmals der Eingangsbereich bis zur Mansardlinie gezogen wurde. Unterteilte Fenster und Fensterläden geben den Fassaden ein angenehmes Äußeres.
Das Fortschrittliche der Wohnungsgrundrisse war das planerische Einlassen auf die Wohnqualitäten einer Arbeiterfamilie. Am meisten verlangt war die Zweizimmerwohnung im Etagenhaus. Sie wurde mit eigenem WC und Bad mit Badeofen konzipiert. Der Volks- Bau- und Sparverein wollte der Gewohnheit Rechnung tragen, dass die Küche meist als Wohnraum genutzt wurde. Es entstand die Wohnküche mit angrenzendem Spülraum:
„Die Einrichtung und Ausstattung der Wohnküche soll eine derartige sein, dass die Frau tagsüber eine freundliche und gesunde Stätte zur Verrichtung ihrer Hausarbeit hat und die Kinder bei ihrem Spielen überwachen kann, aber auch dem Manne nach des Tages Müh‘ und Last ein behagliches Ruheplätzchen abgeben wird.“
Die Wohnfläche einer Zwei-Zimmerwohnung betrug ca. 40 qm und kostete etwa 35 Mark. Alle Etagenhäuser bestanden aus Ein- und Zweizimmerwohnungen oder nur aus Zweizimmerwohnungen, aber auch einige Dreizimmerwohnungen wurden eingeplant. Abwechselnde Kombinationen bestimmen auch hierbei die Häuser- und Fassadenform. Um die Schönheit der Architektur zu würdigen erschien dann in der Hausordnung folgender Satz:
„An Sonn – und Feiertagen soll unter keinen Umständen morgens nach 8 Uhr (im Sommer), nach 9 Uhr (im Winter) noch Wäsche vor den Fenstern hängen.“
Diese Plakataufschrift anlässlich des Fastnachtsumzugs zeigt eindrucksvoll das Verständnis der „Rest-Frankfurter“ vom neuen Stadtteil am Riederwald in den Anfangsjahren der Siedlung. Man gab der Siedlung diesen Spitznamen wegen der im Sommer meist braun gebrannten und barfüßigen Kinder, offenbarte damit aber auch, dass man die Siedlung und ihre Bewohner, nach dem Motto: „Wir in der Stadt und ihr da draußen“, auszugrenzen versuchte.
Aber das stärkte nur den schon legendären Zusammenhalt der Riederwälder, die sich in ihrem „Dorf“ sehr wohl fühlten und deren Wohnraum und Lebensbedingungen besser waren als diejenigen der meisten anderen Frankfurter Natürlich waren in den Anfangsjahren viele Schwierigkeiten zu überwinden, so war z. B., die Infrastruktur gleich Null. Das bedeutete, dass alle Dinge des täglichen Bedarfs aus Bornheim mitgebracht werden mussten, die Kinder dort zur Schule gingen und die Möbelwagen beim Einzug im Schlamm stecken blieben.
Bei diesen Lebensumständen war jeder auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen und half selbst so gut es ging.
Schnell wurden jedoch bessere Bedingungen geschaffen, als im Jahre 1912 die erste Bäckerei und der erste Lebensmittelhandel eröffnet wurden und 1913 die Riederwaldschule am damaligen Schulze-Delitzsch-Platz (heute Johanna-Tesch-Platz) ihren Lehrbetrieb aufnahm. Im gleichen Jahr wurde die Straßenbahnverbindung nach Enkheim, am Riederwald vorbei, eingerichtet.
Die Zeugnisse der Zeit zeigen immer wieder den Stolz der Bewohner, die hier mit eigenen Händen eine Umgebung geschaffen haben, die sich so sehr von üblichen Arbeiterquartieren unterschied. Ein wesentlicher Faktor war hier auch die Genossenschaftsidee, die das ganze Leben im Riederwald prägte. So war die jährliche Hauptversammlung des Volks- Bau- und Sparvereins das Ereignis des Jahres, bei dem es oft hoch her ging.
Aus diesem Bewusstsein heraus entstand schnell ein reges Vereinsleben mit Gesangsverein, Sportverein, Kegelverein, Kleingärtnerverein, Kleintier-zuchtverein und viele mehr. Bis zu 42 Vereine existierten im Riederwald, wobei einige mit gleichartigen Zielen mehrfach vorhanden waren und sich gegenseitig Konkurrenz machten, weil sie sich z.B. in der politischen Auffassung widerspra- chen. So gab es drei Gesangsvereine, drei Sportvereine und zwei Zithervereine. Einige entstanden auch aus einem bestehenden Verein heraus. So schlossen sich z.B. die Kleintierzüchter aus dem Kleingartenverein zu einem eigenen Verein zusammen.
Durch dies intensive Vereinstätigkeit konnten dann immer wieder größere Projekte, wie z. B. das „Keglerheim“, aus eigener Kraft verwirklicht werden, aber auch die Errichtung der Kirchenbauten wäre ohne die (finanzielle) Hilfe der Riederwälder Bürger nicht zustande gekommen. Und dies obwohl viele der Riederwälder „die Kirchenluft nicht gut vertragen konnten“, wie der langjährige Lehrer an der Riederwaldschule Heinrich Müllers, der selbst viele Jahre im Riederwald wohnte, einmal feststellte.
Quelle: Nachdruck mit redaktionellen Änderungen der Publikation „100 Jahre Riederwald“, erarbeitet von der Riederwälder Geschichtswerkstatt in den Jahren 1990-2000, herausgegeben vom Riederwälder Vereinsring aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Stadtteils Riederwald im Jahr 2011.